und eine etwas andere Sicht.....
Die Hartz-IV-Simulanten
Raus aus dem Elfenbeinturm: Für ein Seminar haben 13 Berliner Studierende einen Monat lang gelebt wie ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger.
Von Nicola Holzapfel
Am Ende blieben ihm nur vier Euro übrig. Drei Tage hätte Norman Ludwig davon leben müssen. Das war die Bedingung, um beim Hartz-IV-Selbstversuch mitmachen zu können, für den sich der Student entschieden hatte. Nicht mehr als 345 Euro sollten die Teilnehmer einen Monat lang zum Leben zur Verfügung haben.
Den Versuch hat sich sein Seminarleiter Michael Maschke ausgedacht, Dozent am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Im Rahmen seines Seminars zur "Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik" will er so seine Studierenden für das Thema Arbeitslosigkeit sensibilisieren. "Durch diese Erfahrung fängt man an, anders wahrzunehmen und andere Fragen zu stellen. Studierende haben sonst einen sehr hohen sozialen Status. Der Selbstversuch hat einigen von ihnen einen Perspektivwechsel ermöglicht", sagt Maschke.
Dafür sollte das Budget der Studenten die finanziellen Möglichkeiten eines Arbeitslosengeld-II-Empfängers nicht übersteigen. Die müssen alle ihre Ausgaben mit der Pauschale von 345 Euro im Monat bestreiten, in Ostdeutschland liegt der Betrag bei 331 Euro. Das Geld muss für Essen, Kleidung, Hausrat, Fahrtkosten und auch eventuelle Sonderausgaben reichen, etwa wenn ein elektrisches Gerät defekt ist. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen gibt es einmalige Leistungen, etwa beim Erstbezug einer Wohnung. Kosten für Unterkunft und Heizung werden von Agenturen übernommen, allerdings nur soweit sie "angemessen" sind.
Mehr Geld haben auch viele Studenten nicht. Ein Viertel der Studierenden in Deutschland muss mit weniger als 600 Euro im Monat auskommen und davon auch noch die Miete zahlen. Nur weil andere deutlich mehr haben, liegt der Durchschnitts-Student bei stolzen 767 Euro im Monat. Egal wie wenig sie haben, Studenten profitieren von vielen Rabatten, die es für Arbeitslose oftmals nicht gibt, etwa im Nahverkehr, beim Mensa-Essen oder bei Zeitungs-Abos. All diese Vergünstigungen mussten die Studierendern der Humbold-Uni bei ihrem Experiment berücksichtigen – und dann sehen, ob sie mit dem Geld zurechtkommen und wie sie sich dabei fühlen.
Für Norman Ludwig war der Versuch "schon eine Umstellung": "Ich bin bewusster mit Geld umgegangen und habe weniger ausgegeben", sagt der Student. Eingekauft hat er nur noch bei Plus und Aldi – oder gar nicht: "Ich bräuchte eigentlich dringend eine neue Hose und einen Pullover für den Winter. Meine Kleider haben teilweise schon Löcher. Aber das konnte ich mir jetzt nicht kaufen. Das ist schon arg". Und trotzdem kommt er mit seinem Budget nicht ganz hin. Eine Versuchs-Bedingung war, dass die Teilnehmer alle Ausgaben dokumentieren. Norman Ludwig hat dabei kurz vor Versuchsende gemerkt, dass das Geld nicht reicht: "Ich bekam einen großen Schrecken. Es gibt eben Ausgaben wie die Telefonrechnung, die man nicht 100 Prozent kalkulieren kann."
Auch Sara Schlote hat eisern gespart. 100 Euro weniger als sonst konnte die Studentin in ihrem Hartz-Monat ausgeben. "Man denkt viel mehr darüber nach, was man sich leisten kann und Vieles fällt einfach weg." Mal ein Brötchen oder was zum Trinken zwischendurch hat sie sich eben verkniffen. Übrig blieben ihr für den letzten Tag 1,20 Euro.
Michael Maschke ist schlechter dran. Der Dozent hat selbst an dem Versuch teilgenommen. Er konnte wohl als einziger annähernd die Fallhöhe vom Leben eines Voll-Berufstätigen zu dem eines Arbeitslosengeld-II-Empfängers nachvollziehen. "Ich musste mich massiv einschränken, weil ich sonst wesentlich mehr Geld zur Verfügung habe. Für mich war das sehr anstrengend", resümiert er seine Erfahrungen. Mit den 345 Euro ist er nicht hingekommen. Wäre sein Versuch Wirklichkeit, müsste er sich schon nach vier Wochen mit 40 Euro verschulden. "Ich habe am Anfang den Fehler gemacht, eine Jacke zu kaufen. Das hat mich total reingerissen." Eine warme Jacke im November – für Hartz-IV-Empfänger ist das offensichtlich nicht drin.
Sein Student Jann Nestlinger ist während des Versuchs abends kaum weggegangen. Er war einmal im Kino, einmal ein Bier trinken – das war’s. "Den einen Monat haben meine Freunde geschmunzelt, wenn ich gesagt habe: 'Ich kann nicht mit, ich habe kein Geld.' Aber wenn man auf Dauer nicht den Lebensstandard seines Umfelds hat, brechen sicher einige soziale Kontakte weg“, sagt der 21-Jährige. Dozent Maschke sieht darin auch eine Gefahr für die Beschäftigungschancen. "Es ist ein Problem, wenn man sein Netzwerk verliert. Das braucht man, um wieder einen Job zu finden", sagt Maschke.
Seinen Studenten hat er im Rahmen des Versuchs auch eine Aufgabe gestellt: Sie sollen überlegen, wie sich die Möglichkeiten, an der Gesellschaft teilzuhaben, unter Hartz-IV-Bedingungen ändert. Doch wie sich Arbeitslose wirklich fühlen, ist bei einem Experiment, das nur auf einen Monat begrenzt, schwierig nachzuvollziehen. Trotz der strengen Versuchsbedingungen, ist die Perspektive und Situation der Teilnehmer eben eine andere. Die Studierenden sind nun mal nicht wirklich arbeitslos. "Es ist schwer, das zu simulieren", sagt Norman Ludwig. "Wir nehmen ja weiter am studentischen Alltag teil". Auch Sara Schlote sieht die Grenzen des Experiments: "Natürlich kann man nicht wirklich nachvollziehen, wie sich jemand fühlt, der auf Dauer mit dem Hartz-IV-Satz leben muss. Wir konnten uns ja immer auf den nächsten Monat freuen, wenn alles vorbei ist."
Für die Studenten der Humboldt-Uni ist am Freitag mit dem Selbstversuch Schluss. Dozent Michael Maschke hofft, dass er durch das Experiment auch die Motivation seiner Seminarteilnehmer steigern konnte, sich mit dem Thema Arbeitslosigkeit an der Uni zu beschäftigten.
Norman Ludwig hält nach seinen Erfahrungen während der letzten Wochen den Hartz-IV-Satz für zu niedrig. "Das Geld ist so knapp bemessen. Man kann seinen Fähigkeiten und Interessen nicht nachgehen. Viele Hobbys und auch eine Weiterbildung an der Volkshochschule sind unbezahlbar. Man kann auch nirgendwo hinfahren. Für Mobilität sind nur 17,91 Euro im Monat vorgesehen. Allein das Sozialticket kostet aber in Berlin 33,50 Euro."
Sara Schlote wünscht sich nach ihren Erfahrungen, "dass es in der Gesellschaft eine Diskussion darüber gibt, wie Arbeitslose besser integriert werden können, anstatt dass sie alleine aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit ausgegrenzt und als Sozialschmarotzer abgestempelt werden."
Jann Nestlinger ist froh, dass er an dem Versuch teilgenommen hat. Den Vorwurf, nur im Elfenbeinturm zu sitzen, braucht er nun nicht mehr gelten zu lassen. Er fände es sogar gut, wenn das Experiment von anderen weitergelebt wird: "Jeder, der sich mit Arbeitslosigkeit beschäftigt oder über die Betroffenen entscheidet, sollte einmal von den 345 Euro gelebt haben – damit er weiß, wovon er spricht."
Gefragt, was sie direkt nach dem Ende des Versuchs machen wollen, kommen von den Teilnehmern ganz ähnliche Antworten: Michael Maschke will erst einmal "den Kühlschrank" füllen. Norman Ludwig kann sich "endlich Hose und Pullover kaufen". Und Sara Schlote will "lecker essen gehen" und anfangen Weihnachtsgeschenke zu besorgen.
Das ist eben der bittere Unterschied zwischen Simulation und Wirklichkeit: Echte Arbeitslosengeld-II-Empfänger können ihren Konsum nicht auf später verlagern. Wie sie mit ihrem Budget auf Dauer hinkommen und ihre Situation selbst empfinden, erfahren die Studenten in der nächsten Seminar-Sitzung. Dann sind Langzeitarbeitslose zu Besuch.
http://www.sueddeutsche.de/,tt5m2/jobka ... ticle.html