Indien und die Folgen der Globalisierung

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lodo
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Indien und die Folgen der Globalisierung

Beitrag von lodo »

SPIEGEL ONLINE - 20. Februar 2006, 07:12
URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,400831,00.html
Verlierer der Globalisierung

Indische Traumwelten

Von Thomas Schmitt, Bangalore

Volkswirte prophezeien der indischen Wirtschaft rosige Zeiten, der Aktienmarkt steigt von Rekord zu Rekord. Die neureichen Nutznießer der Globalisierung präsentieren in der Boomstadt Bangalore ihren Reichtum - die Opfer des Wirtschaftswunders werden vergessen.

Bangalore - Auf die Herren im Regierungspalast von Bangalore, dem "Vidhana Soudha", ist Ramakrishna Murthy nicht gut zu sprechen. Vor kurzem wurde er von seinem Arbeitgeber, der Hindustan Lever, kurzer Hand auf die Straße gesetzt. Zehn Jahre lang hatte er als Lebensmittelchemiker für das Unternehmen gearbeitet, das zum britisch-holländischen Multi Unilever gehört. Doch Murthy macht nicht die Industriellen für seinen Rausschmiss verantwortlich - sondern die obersten politischen Entscheider.

Er sieht sich selbst als ein Opfer des "indischen Wirtschaftswunders". Er fühlt sich als einer der "Globalisierungsverlierer", die wegen der Liberalisierung der indischen Wirtschaft ihre Jobs verloren haben.

"Zu alt, zu unflexibel, zu teuer" sei er mit seinen 52 Jahren, habe man ihm gesagt. Seitdem sich Indiens Unternehmen aus einem riesigen unerschöpflichen Reservoir an jungen und gut qualifizierten Arbeitskräften bedienen können, ist für einen wie ihn kein Platz mehr. "Nachdem sie mich entlassen hatten, musste ich noch im selben Monat meine Wohnung verlassen", klagt er. Jetzt hausen er und seine Familie, ohne nennenswerte soziale Absicherung, in einem herrenlosen, halbverfallenen Haus am Stadtrand von Bangalore. Sie leben mehr schlecht als recht von den Einkünften seiner Frau.

Bis vor kurzem noch waren sich viele in der aufstrebenden High-Tech-Metropole einig, dass es keine Alternative zu den Wirtschaftsreformen gibt. Inzwischen aber mehren sich Stimmen derer die fürchten, eine weitere Liberalisierung könne die soziale Balance des Vielvölkerstaates zerstören. In auflagestarken Blättern und Magazinen wie "Outlook", "India Today" und "The Week" melden sich Kolumnisten zu Wort, die den im Ausland hoch gelobten Reformkurs der Zentralregierung in Delhi in Frage stellen.

"Nur gut jeder Zweite von uns kann lesen und schreiben"

Blickt man auf die Kenndaten der Statistiker, sehen Indiens Wirtschaftsreformen aus wie ein durchschlagender Erfolg. Immerhin ist es der "größten Demokratie" der Erde gelungen, bei IT-Dienstleistungen zum Exportweltmeister aufzusteigen. Die "Überregulierung" der Wirtschaft wurde zurückgefahren, die Wachstumsrate stieg von durchschnittlich 3,7 Prozent in den fünfziger und sechziger Jahren auf bemerkenswerte sieben Prozent im vergangenen Jahr.

Wirtschaftsinstitute beteuern unermüdlich, dass der indischen Volkswirtschaft noch rosigere Zeiten bevorstehen. Glaubt man den Prognosen der Deutschen Bank Research, so soll sich Indiens Bruttoinlandsprodukt in den nächsten zwölf Jahren verdoppeln. Damit würde Indien bis 2020 zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt - nach den USA und China. Das Vertrauen ausländischer Geldgeber ist so groß, dass der wichtigste indische Aktienindex, der Sensex, jüngst zum allerersten Mal über die Marke von 10.000 Punkten sprang.

Von alledem will Murthy nichts wissen. "Indien ist weit davon entfernt ein entwickeltes Land zu werden. Nur gut jeder Zweite von uns kann lesen und schreiben, und die Umweltsituation wird zunehmend dramatischer", sagt er.

"Die Löhne stagnieren, während die Lebenshaltungskosten steigen", pflichtet ihm Dhruva L. Robby bei. Dhruva, wie ihn seine Freunde nennen, war vor kurzem selbst auf Jobsuche. Anders als Murthy ist er jung und ungebunden. Jetzt arbeitet er für wenig Geld sechs Tage die Woche in einem Call-Center für Dell , um die Computerprobleme anderer Leute via Telefon zu lösen - in Nachtschichten, versteht sich.

Inflation nagt an den Löhnen der Mehrheit

Die ständigen Erfolgsmeldungen vom Aktienmarkt überdecken Schattenseiten und Probleme im Wirtschaftswunderland Indien. So steigen zwar die Gehälter für moderne Dienstleistungsjobs seit Jahren spürbar - die Löhne in den übrigen Sektoren aber haben sich nur geringfügig verändert oder sind gar gleich geblieben. Schlecht für die überwiegende Anzahl der Beschäftigten. Denn bei einer Inflationsrate von mehr als vier Prozent müssen sie jedes Jahr Verluste an Kaufkraft wegstecken.

Daran wird sich so schnell nichts ändern. Noch immer verdient ein Industriearbeiter selten mehr als 7000 Rupien (130 Euro) im Monat, ein Tagelöhner muss gar mit weniger als 1500 Rupien auskommen. Dafür kann man sich weder ein ordentliches Dach über dem Kopf noch ausreichend gute Lebensmittel leisten. Kinderarbeit ist nach wie vor üblich. Die ärztliche Versorgung für die armen Teile der Bevölkerung reicht nicht aus.


Die unangenehmen Nebenwirkungen des Booms sind gerade in den Metropolen Indiens unübersehbar - laut Weltbank gehören sie zu den am schnellsten expandierenden Städten auf dem ganzen Globus. Trotz vieler Parks und Alleen leiden sie unter wachsender Luft- und Lärmbelastung.

Wer einmal mit einer Motor-Rikscha ein paar Runden im Zentrum von Bangalore dreht - dessen Kleider färben sich rußschwarz, die Augen beginnen zu tränen. Seit Abertausende Mopeds, Nahverkehrsbusse und Kleinwagen die Straßen verstopfen, bricht der Feierabendverkehr regelmäßig zusammen
Siemens hat inzwischen seine Expansionspläne für Bangalore angehalten und will laut Indien-Chef Jürgen Schubert künftig lieber in Puna, Chennai (Madras) oder Kalkutta wachsen. Unterdessen ziehen arme Landbewohner auf der Suche nach Arbeit weiter in die Sechs-Millionen-Stadt - und landen oft in den Slums.

Wenig verwunderlich also, wenn Globalisierungskritiker wie Ashok Mitra neue Anhänger finden. Eine weitere Öffnung des Marktes, warnt der Ökonom und frühere Finanzminister des Bundesstaats West-Bengalen, würde auf die "Übernahme" des Subkontinents durch multinationale Konzerne hinauslaufen. Mitra fürchtet Schaden für die Ärmsten, eine wachsende soziale und politische Instabilität. Seine Thesen vertritt der Marxist in Büchern und Zeitungskolumnen. Den weiteren Abbau von staatlichen Wirtschaftshilfen - wie ihn Weltbank und Weltwährungsfonds fordern - lehnt er kategorisch ab.

Handy-Kult in der neuen Mittelschicht

Die Befürworter der Globalisierung widersprechen - in allen Punkten. Ihrer Ansicht hat Indien viel zu lange an der Linie festgehalten, die Schwerindustrie zu fördern und den Staatssektor zu päppeln. N. Srinivasan, Generaldirektor des Industrieverbandes, fordert daher, die Politik der "offenen Tür" für ausländische Investoren fortzusetzen. Die indische Wirtschaft könne mit starken ausländischen Partnern "nur gewinnen", sagt er.

Neben ausländischen Multis und heimischen Unternehmen wie Infosys und Wipro gehören die Ober- und Mittelschichten in den Ballungszentren im Süden zu den Gewinnern. Seit der IT- und Software-Boom Städte wie Bangalore, Hydarabad oder Chennai fest im Griff hat, konnten gut ausgebildete Inder ihre eigene wirtschaftliche Lage merklich verbessern. Mit Monatsgehältern, die weit über dem Durchschnitt des Landes liegen, übernehmen sie die Konsumkultur und Lebensstile der westlichen Welt.

Dhruva Robbys neue Arbeitskollegen beispielsweise lieben nichts mehr, als am frühen Abend in den modernen Cafés der Mahatma Gandhi Road die Zeit totzuschlagen und ihre neuen Handys spazieren zu tragen. Später werden sie in eine der neuen Diskotheken ziehen. "Da wird keiner einen Gedanken an Armut und dergleichen verschwenden", argwöhnt der kritische Dell-Mitarbeiter.

Im Internet wird zum West-Boykott aufgerufen

Ernsthafte Versuche, die durch die Liberalisierung entstandenen Verwerfungen abzumildern, sind bislang unterblieben. Das Gefälle zwischen dem weiter landwirtschaftlich geprägten Norden und dem neureichen Süden mit seinen Zentren Mumbai (Bombay) und Bangalore wächst. Schon jetzt lebt mehr als die Hälfte aller Armen Indiens in den nördlichen Unionsstaaten - in Orissa, Bihar, Rajasthan oder Madhya Pradesh.

Doch auch im Süden begehren Bürgerinitiativen und Vereine gegen den wirtschaftlichen Kurs auf. In Karnataka beispielsweise, wo jährlich Hunderte Bauern wegen hoher Schulden in den Selbstmord gehen, ruft die Bauernvereinigung der Karnataka Raytha Sangha regelmäßig zu Protesten auf. Sie klagt, Bauern würden von multinationalen Saatgut- und Düngemittelkonzernen genötigt, zu hohe Preise zu zahlen.

Der Kontrast zwischen einer steigenden Anzahl von Neureichen und den Millionen ohne vernünftige Unterkunft könnte auch den Ultrarechten in die Hände spielen. Erst kürzlich wurde die von der Kongresspartei geführte Unionsstaatenregierung in Karnataka gestürzt. Der Machtwechsel hat nun die hindunationalistische Bharatiya Janata Party auf die Regierungsbank befördert - zum ersten Mal überhaupt in einem südindischen Unionsstaat.

Im Internet kursieren schon Mail-Listen, auf denen zum Boykott ausländischer Waren aufgerufen wird. Paradoxerweise richten sich die Appelle aber nicht an die sozialen Absteiger, an die verarmten Bauern und andere Globalisierungsverlierer - die können sich die teuren Import-Produkte ohnehin nicht mehr leisten.

Angesprochen sind die Neuen Reichen - und damit genau die Gruppe, die bisher am meisten von der Marktöffnung profitiert hat.




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