Russland um 2000
Auslandsschulden drücken RusslandInterimspräsident Putin will "nationale Entwicklungsstrategie" für die nächsten fünf bis zehn Jahre
Gisbert Mrozek
MOSKAU, 3. Januar. Die Russen sind Realisten.
Auf die Nachricht von Jelzins Amtsverzicht reagierte die Moskauer Aktienbörse am Silvestertag mit einem Freudensprung.
Um durchschnittlich knapp 15 Prozent sprangen die Aktienkurse in die Höhe. Die Aktien des staatlichen Energiekonzerns "Einheitliche Energiesysteme Russlands", dessen Vorstandschef Anatolij Tschubais als Kurator des neuen Interimspräsidenten Putin und damit als heimlicher Gewinner der "Operation Rücktritt" gilt, schnellten gar um 27,8 Prozent hoch.
Die Aktienwerte sanken dann aber schnell fast bis auf das Niveau des vergangenen Jahrtausends ab, als die russischen Börsenmakler nach dem turbulenten Neujahrsfest ausgeschlafen hatten. Als sich Interimspräsident Wladimir Putin am Montag zum finanzpolitischen Ratschlag mit Zentralbankchef Geraschenko traf, betrug das Putin-Plus an der Börse nur noch zwei Prozent.
Verdopplung der Ölpreise
Auf diesem bescheidenen Niveau bewegt sich auch der Vertrauensvorschuss der Geschäftswelt für Wladimir Putin. Ein Wirtschaftsprogramm hat Jelzins Thronfolger erklärtermaßen noch nicht. Als ihm kurz vor den vergangenen Duma-Wahlen Ex-Premier Sergej Kirijenko bei einer TV-Audienz das radikal-liberale Wirtschaftskonzept der "Rechtsunion" überreichte, nahm Putin den voluminösen Band dankend entgegen und schob ihn demonstrativ mit den Worten zur Seite, er werde alles aufmerksam studieren. Abgewiesen hat Putin bisher auch die Steuersenkungspläne Grigorij Jawlinskijs und alle anderen wirtschaftspolitischen Zwangs-Leihgaben. Stattdessen verfügte Putin, der nicht nur KGB-Oberst, sondern immerhin auch Doktor der Wirtschaftswissenschaften ist, den Aufbau eines eigenen "Strategiezentrums" der Regierung, in dem vor allem Wirtschaftsinstitute vertreten sind.
Den Reformen fehle bisher eine "allgemeine nationale Entwicklungsstrategie für die nächsten 10 bis 15 Jahre", verkündete Putin ohne damit aber den Einstieg in eine neue Planwirtschaft zu meinen. Bisher brachte er seine Vorstellungen auf den Begriff "sozial orientierte Marktwirtschaft".
Ins neue Jahrtausend geht Russland unter vorsichtig günstigen Vorzeichen. Im vergangenen Jahr erlebte Russland einen deutlichen Anstieg der Industrieproduktion. Befördert wurde die freundliche Entwicklung schon 1998 durch die Rubelabwertung, die die Lohnkosten und Staatsschulden schlagartig auf ein Viertel reduzierte. Russische Produzenten und alle Auslandsinvestoren, die in Russland produzieren, profitierten zusätzlich auch davon, dass nach der Rubelkrise die Importkonkurrenz vom russischen Binnenmarkt praktisch verschwand.
Die Konjunktur wurde im Laufe von 1999 schließlich auch durch die Verdoppelung der Weltmarktpreise für Öl auf 26 Dollar pro Tonne zusätzlich angekurbelt. Die sibirischen Konzerne verzeichneten 23 Milliarden Dollar Mehreinnahmen. Die Hälfte davon landete in der russischen Staatskasse.
Aber Putin kann diesen Vorschuss schnell verspielen. Im Laufe des Jahres 2000 muss Russland 17 Milliarden Dollar für den Auslandschuldendienst aufbringen. Nach Schätzung des Ex-Finanzministers Michail Sadornow kann Russland aber unter günstigsten Vorausset-zungen höchstens zehn Milliarden zahlen.
Hohe Kriegskosten
Die internationale Kreditfähigkeit Russlands wird außerdem auch noch durch den Tschetschenien-Krieg weiter strapaziert, der alleine im vergangenen Jahr nach Schätzungen Jegor Gaidars schon vier Milliarden Dollar gekostet hat. Im besten Fall wird daher nach Expertenmeinung das Wirtschaftswachstum im Jahre 2000 vier Prozent betragen, auch weil die Investitionen, die Russland dringend braucht, bisher ausbleiben. Die Auslandsinvestitionen betrugen im vergangenen Jahr nur etwa vier Milliarden Dollar, während gleichzeitig monatlich eine Milliarde Dollar aus Russland flüchtete. Die Kapitalflucht auf Auslandskonten, an der auch die Präsidentenfamilie selbst beteiligt war, beschleunigte sich vor den Duma-Wahlen sogar noch auf anderthalb Milliarden pro Monat. Russen, die nicht über ein Schwarzgeldkonto im Ausland verfügen, flüchten sich stattdessen in den russischen Wirtschaftsuntergrund. 40 bis 50 Milliarden Dollar liegen in russischen Sparstrümpfen statt auf Sparkonten. Mindestens ein Fünftel der russischen Wirtschaft wird überhaupt bargeldlos mit Bartergeschäften betrieben.
Um Russlands gigantisches Wirtschaftspotenzial zu mobilisieren, müsste Wladimir Putin nach Expertenmeinung vor allem eine Aufgabe lösen: das Vertrauen in Staat und Banken wieder herstellen.
iwww.diw-berlin.de
RUSSLAND Starke Abwertung des Rubels // Produktion: Dem jüngsten Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge konnte die russische Wirtschaft ihre starken Produktionseinbrüche im Zuge der Finanzkrise des Jahres 1998 überraschend schnell wettmachen.
Faktoren: Begünstigt wurde diese Entwicklung von einer starken Abwertung des Rubels und einer zwischenzeitlichen Erholung der Weltmarktpreise für Rohöl.
Folgen: Während die Unternehmen ihre finanzielle Situation infolge der Abwertung und des Anstiegs der industriellen Produktion verbessern konnten, verschlechterte sich die Lage der privaten Haushalte drastisch.