Rio Grande/Seebad Cassino 2.12.06
Wieder ist ein Monat rum. Wir haben unser Vorhaben in die Tat umgesetzt, uns als „Kontrastprogramm“ zu den grandiosen kühlen bolivianisch/chilenischen Anden und dem heißen bolivianisch/brasilianischen Tiefland etwas Erholung zu gönnen und abseits der sonst üblichen touristischen „Hauptrouten“ das südbrasilianischen Küstenland mit seinen europäischen Wurzeln zu erkunden. Ein Kontrastprogramm ist diese Routenwahl in vielerlei Hinsicht:
-klimatisch in Bezug auf das Risiko wechselhafteren Wetters ( was dann auch voll eintraf)
-entwicklungspolitisch in Bezug auf die ökonomische Entwicklung: als industrielles Schwellenland bietet Brasilien – trotz aller extremen sozialen Gegensätze – in Bezug auf die Infrastruktur einen ganz anderen touristischen Reisekomfort als Länder wie Bolivien, Peru oder Paraguay.
-demografisch in Bezug auf die Besiedlungsdichte; statt menschenleerer tropischer Tiefländer und Hochgebirge bereist man einen dicht besiedelten Raum: Immerhin leben von 175 Millionen Brasilianern 75% an der Küste oder nicht weiter als 100 KM von der Küste entfernt
-schließlich geographisch in Bezug auf die Landschaft: statt spektakulärer Hochgebirge oder exotisch anmutender tropischer Tiefländer erwartet man im südlichen Brasilien eher unspektakulär anmutende Mittelgebirgslandschaften oder eher langweilig erscheinende Tiefebenen im südlichöstlichsten Teil des Landes.
Um es vorweg zu nehmen: Von den meisten Reisenden aus Europa wird diese Region eher als „uninteressant“ links liegengelassen- völlig zu unrecht wie wir meinen. Zwar erwarten den Besucher tatsächlich mitteleuropäisch anmutende fast idyllisch wirkende Hügel- und Mittelgebirgslandschaften, aber eben im Bereich der Küstengebirge wie der Sierra do Mar südlich von Sao Paulo, der Sierra do Rio Rasto bei Florianopolis oder der Sierra Gaucho nördlich von Porto Alegre auch wahrlich spektakuläre –unerwartete- Landschaften mit tiefen Canyons, subtropisch urwüchsigem Regenwald und schönen Araukarienwäldern (Mata Atlantica) und etlichen wunderbaren Tropfsteinhöhlen. Ganz im Süden zwischen Porto Alegre und Rio Grande geht die Landschaft in die weiten Ebenen der Viehzuchtgebiete über – traditionelles Gaucholand, bietet hier aber entlang der Küste auf der schmalen, nur wenige Kilometer breiten und 300 KM langen Landzunge eine nur dünn besiedelte wunderschöne Natur- und Kulturlandschaft mit einem menschenleeren Dünen- und Sandstrand. begrenzt vom Atlantik auf der einen und der „Lagoa da Patos“ auf der anderen Seite. Nur wenige Fischersiedlungen stören diese Idylle.Neben der wenige KM im Hinterland verlaufenden Hauptstrasse sind diese Minisiedlungen auch durch eine Strandpiste miteinander direkt verbunden. Wer schon mal in Mauretanien war und die berühmt-berüchtigte Strandpiste zwischen Nouadhibou in der Hauptstadt Nouakchott gefahren ist, wird sich hier wie in der Westsahara fühlen, echtes Sahara-Feeling vom Feinsten.....
An der nördlich anschliessenden Küste der Bundesstaaten Sao Paulo und Santa Catarina sind dann etliche kleine Küstenstädtchen mit ihrer Kolonialarchtiktur einen Besuch wert wie etwa Iguape, die älteste Stadt im Bundesstaat Sao Paulo, Sao Francesco do Sul und Governado Celso Ramos; einige wirken zum Teil reichlich verschlafen, als ob sie ihre besten Tage schon längst hinter sich hätten. Nicht alle sind wirklich unbedingt einen Besuch wert, ein paar kolonialbauten hier, ein netter Strand da, man muss schon eine Städtefreak sein, um sie alle zu würdigen. Vor allem bei schlechtem Regenwetter sitzen wir in einigen Orten doch etwas gelangweilt und ratlos im Auto. Dafür ist ein Besuch der Insel Ilha Santa Catarina bei Florianopolis einen echten Besuch wert- zwar touristisch voll erschlossen und in der Hochsaison völlig überlaufen, aber zu dieser Vorsaison-Jahreszeit allemal einen Besuch wert mit seinen wunderschönen Stränden und seiner hervorragenden Infrastruktur mit Strandbars und Restaurants.
Last but not least bedeutet ein Besuch dieser Region Brasiliens schliesslich unweigerlich eine Beschäftigung mit seiner - europäischen –Besiedlungsgeschichte. Im Reisefuehrer heisst es:
„Wenn der Nordosten Brasiliens aufgrund seiner Menschen Klein-Afrika ist, dann ist der Süden so etwas wie Mini-Europa. In kaum einer anderen Region des Landes werden die „tropischen“ Brasilien-Klischees so wenig bestätigt wie hier. Es entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität, in Blumenau auf deutsche Fachwerkarchitektur zu stoßen, in Gramado Schweizer Käsefondue zu essen oder in Pomerode auf der Strasse deutsch zu hören. Auf Brasilianer wirkt das exotisch, ebenso wie das klima und die hügelige Landschaft mit manchmal – in Höhenlagen über 1000m winterlichen Temperaturen."
Die Besiedlungsgeschichte Südbrasiliens durch europäische und asiatische Einwanderer wird sehr schoen von Carl Goerdeler beschrieben:
„.....Vom Himmel hoch, da komm ich her....“ altdeutsche Weihnachtlieder klingen ausc der Halle, während draussen das Thermometer auf 30 Grad klettert und die Grillen ihr Weihnachtskonzert anstimmen. Wer zur Weihnachtszeit in den Süden Brasiliens reist, wird solchen Kontrasten häufig begegnen. Blumenau, die heimliche Hauptstadt der Provinz Santa Catarina, ist den Brasilianern allerdings weniger wegen der Weihnachtsbräuche als der Trinksitten halber bekannt. Das „Oktoberfest“ der Stadt gilt als das weltweit zweitgrößte. Aber Bayern haben in Blumenau nie gelebt. Die Gründungsväter waren waschechte Preußen. Sie kamen aus Sachsen, der Pfalz, dem Hunsrück und Pommern, anno 1848 und die Obrigkeit steckte sie in grünen Drillich, „Grünbäuche“ heissen sie noch heute.
Der Apotheker Dr. Hermann Blumenau ruderte mit seinem Freund Ferdinand Hackrath den Itajai-Fluss hinauf. Sie halten sich dicht am Ufer, denn der Fluss strömt reissend zwischen Urwaldriesen dahin. Die beiden Deutschen stossen in en südbrasilianischen Dschungel vor, um eine neue Heimat für ihe Landsleute zu suchen. Als ein Wasserfall die Weiterfahrt versperrt gehen sie an Land. Sie schlagen Pflöcke in die Erde und beschliessen, bei der kaiserlichen Regierung Brasiliens eine Konzession für die „Gesellschaft zum Schutz der deutschen Auswanderung“ zu beantragen. Zwei Jahre später, am 2.9.1850, stehen an gleicher Stelle neben Blumenau und Hackrath siebzehn erschöpfte Personen mit Hab und Gut im „Kühlen Grund“ und wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen.
Der grosse Treck der Hungerleider aus Europa hatte Anfang des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Die Gemahlin des ersten brasilianischen Kaisers, Leopoldine von Habsburg, förderte die Ansiedlung ihrer Landsleute im Süden des Landes. Staatspolitisch ging es darum, die Grenze zu den spanischsprechenden Nachbarn zu sichern. Jede Einwandererfamilie, so versprach Kaiser Pedro I., sollte 1 Quadratkilometer Land erhalten und 10 Jahre lang Steuerfreiheit geniessen.Kleinbauern und Handwerker waren besonders willkomen, denn Plantagenherren und Viehbarone hatte man schon genug.
Mit der Brigg „Anna Luisa“ segelten die ersten Auswanderer ins gelobte Land. Am 25.7.1824 gründeten sie ein Dorf und nannten es zu Ehren der Kaiserin Sao Leopoldo. Der 25. Juli wird in den Vereinen Südbrasiliens auch heute noch gebührend gefeiert. Die bettelarmen Emigranten aus deutschen Landen hatte damals weniger Grund zur Freude: „Für die Eltern der Tod, für die Kinder die Not, für die Enkel das Brot“, hieß es.
Bis zur Jahrhundertwende hatten sich bereits viele tausend Teutonen in Südbrasilien angesiedelt. In manchen Tälern wurde nur Deutsch gesprochen. Die Deutschen stellten neben den Italienern und Polen die meisten Einwanderer in den Südprovinzen. Deutsche Traditionen wurden mit Inbrunst gepflegt – leider auch zur Nazi-Zeit: „Am Sonntag, 7. November 1937, veranstaltet die hiesige Ortsgruppe der NSDAP im Wilhelm-Gustloff-Heim ab 6 Uhr abends das 1. Eintopf-Essen im Winterhilfswerk 1937/38. Alle Volksgenossen werden hierzu herzlich eingeladen-NSDAP-Ortsgruppe Blumenau.“ Die Brasilianer übten Geduld mit ihren deutschtümelnden Neubürgern. Bis ihnen das Treiben zu bunt wurde und sie mit den SA gegen die „Achse“ in den Krieg gingen. Deutsch wurde einfach verboten.
Die Wasser des Itajai sind längst darüber hinweggezogen. Deutsch ist wieder „in“ in der Provinz Santa Catarina. Wer Klöße schätzt und frisches Bier, der schlendert an der „Loreley“ vorbei zur Ausflugsschänke „Frohsinn“. Im Vestibül der rustikalen Jause hängen die Fotografien dreier Staatsbesuche: vom „Grafen Zeppelin“, von Karl Carstens und Helmut Kohl 1992. Der Blick schweift von der Terrasse übers enge Tal:
„Aus blauen Wogen steigt ein Land
an Schönheit, Glanz und Armut reich
der Urwald ist sein Prachtgewand
auf erden ist kein Land ihm gleich
aus en Orangenhainen heraus
schaut hier mein liebes Vaterhaus
hier fand des Nordens blauer Sohn
ein neues Heim auf grüner Flur
hier spenndet ihm verdienten Lohn
die ewig schaffende Natur“ (deutsch-brasilianischer Heimatkalender 1966).
Dr.Blumenau und die deutschen Kolonisten kämpften zäh ums Überleben. Die kleine deutsche Siedlung wurde häufig von Epedemien und Überschwemmungen heimgesucht. Indianerüberfälle „stellte man schnell ab“. Die Gemeinde bezahlte Friedrich Deeke als „Burgerjäger“, der die indianischen Botokuden vertreiben sollte. 1877 fing er ein „zahmes Botokuden-Mädchen“ ein, das der Direktor des Kolonialvereins „Hammonia“ aufnahm und „zivilisierte" – eine damals viel beachtete philanthropische Geste.
In Blumenau blieb man unter sich. Aber die Stadt mauserte sich allmählich zu einem wichtigen Industriestandort. Hermann und Bruno Hering kamen aus Chemnitz und brachten ihre Webstühle mit. Sächsischer Fleiss paarte sich mit brasilianischer Baumwolle. Das Geschäft lief glänzend. Aus Blumenau wurde sozusagen Heringsdorf. Noch heute übt die „Companhia Hering“ grossen Einfluss auf die Stadt aus, die inzwischen weit über 200.000 Einwohner, 65000 Autos, 1000 Fabriken, 73 Schulen und 33 Schützenvereine zählt. Im Club Tabajara treffen sich die Honoratioren aus den Sippen der Herings, Zadroznys und Fritsches zur Gipfelpolitik. In Blumenau mucken keine aufmüpfigen Gewerkschaften auf, weil die Firmenpatriarchen klug genug waren, dem Wohlergehen und der beruflichen Bildung ihrer Belegschaften grosse Aufmerksamkeit zu schenken – eine für Brasilien ungewöhnliche Unternehmerphilosophie.
Die Deutschen aus dem Süden werden in Brasilien als zuverlässig und tüchtig geschätzt -doch nicht unbedingt geliebt. Dazu sind sie zu „chato“, zu steif und holzköpfig. Aber wenn das Bier fliesst oder die Männerchöre Weihnachtslieder anstimmen, bemerken die angereisten Touristen aus Rio oder Sao Paulo, dass ihre deutschstämmigen Landsleute nicht nur zu arbeiten verstehen, sondern dass sie auch feiern können. Um das zu entdecken, muss man gelegentlich gewisse Härten in Kauf nehmen: Schmuddelwetter, so wie im Hamburger November; es nieselt grau vom Himmel bei 8 Grad, hinter beschlagenen Autoscheiben ziehen die Wohnblocks von Novo Hamburgo vorbei – und das im Juli und 30 Breitengrade südlich des Äquators. Ob die ersten deutschen Einwanderer mit solchem Winterwetter gerechnet hatten? Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür- aber deswegen kommen die Touristen in die Sierra, um die Sensation der Kälte zu verspüren. Das Fernsehen meldet neue Rekorde: Auf 0 Grad soll das Thermometer fallen! In Rio friert man schon bei 20 Grad. Hier unten im Süden aber, in Gramado, rieselt fast jedes Jahr einmal der Schnee – wenn auch nur für wenige Minuten.Beste Gelegenheit, die eingemotteten Pelze und gestrickten Pullover herauszuholen – Handschuhe nicht vergessen. Bei „Tante Nilda“ wird die Kälte mit „Cafe Colonial“ besiegt: ein stundenlanger kulinarischer Kampf gegen den Magen. Wilhelm, der Ober, trägt nach der Bestellung erst einmal Eisbein, Würstchen und Sauerkraut auf. Daran schliesst sich eine kalte Wurt- und Käseplatte an. Mit Toast und Kräckern wird der Übergang zur süssen Seite vollzogen. Nun kommt ein Tablett mit Dutzenden ausgemachter Marmeladen und Gelees. Gebäck und Kuchen folgen.“Gewässert" wird mit Milchkaffee und einer Kanne heisser Schokolade – der stopfende Kakao soll das Platzen der Gäste verhindern. Für diese Art der Körperverletzung sind pro Person umgerechnet 5 US-Dollar zu zahlen.“Hat es Ihnen nicht geschmeckt?“ fragt Wilhelm betroffen, weil die Ananastorte nicht angerührt wurde.....
In manchen Gegenden könnte man glauben, durch deutsche Dörfer zu fahren, sogar die Milchkannen auf den Holzböcken fehlen nicht. Die Orte tragen Namen wie „Leopoldina“, „Allesgut“ und „Teutonia“. Teutonia, 6000 Einwohner machte Schlagzeilen in der brasilianischen Presse: ein Ort ohne Obdachlose, schrieben die Zeitungen. Der Bürgermeister ist darauf besonders stolz. Allerdings sorgen die Dorfschulzen auch dafür, dass es so bleibt: Die Teutonen wollen unter sich bleiben – selbst wenn sie nur noch „Hundsbuckeldeutsch“ radebrechen und das Brotbacken längst verlernt haben.....“.
Das Stadttor von Pomerode schließlich weist zwei spitze Giebel und jede Menge Fachwerk auf. Etwas mehr als 21.000 Menschen leben hier und in der unmittelbaren Umgebung, davon sind mehr als zwei Drittel deutschstämmig.. Wie der Name schon vermuten läßt, wurde der Ort einst von Siedlern aus Pommern gegründet. Ab 1861 siedelten die ersten Pommerer am Rio do Testo und gründeten Bauernhöfe. Weidewirtschaft ermöglichte die Produktion von Fleisch, Wurst, Milch und Käse, die auch an die umliegenden Siedlungen verkauft wurden. Mit der Herstellung von Ziegelsteinen, Vasen und Tellern begann die Industrialisierung. Erste Manufaktur war die Porzellanfabruk Schmidt, mit der die Stadt berühmt wurde. Sie ist heute die größte Porzellanfabrik Brasiliens. Viele der heutigen Einwohner sind noch heute blond und blauäugig, an der Schule wird neben Portgiesisch und Englisch Deutsch gelehrt. Die meisten ihrer Großeltern kommunizieren bis heute untereinander auf Deutsch mit pommerschem Akzent, viele sind Mitglieder im Schützenverein und feiern im Januar die „Festa Pomerana“ mit deutschem Brauchtum......“
Aber nicht nur Deutsche liessen sich im 19. Jahrhundert in Südbrasilien nieder. Hoch in den Bergen der Sierra tragen manche die Dörfer italienische Namen. Bauern aus den Abruzzen und Winzer aus Venetien ließen sich im 19. Jh. Ihier nieder. So blühen in Rio Grande do Sul Milchwirtschaft und Weinkultur, Industrie und Handwerk einträchtig nebeneinander, feiern die Leute Kermes und Carnevale, singen deutsche und italienische Lieder und sind doch selbstbewusste Brasilianer. Die Rebenfelder der weinbauern bedecken nur einen kleinen Teil des Berglandes, 60.000 Hektar im Lande. Meist handelt es sich um kleine Areale, mitten aus dem Busch gehauen. Die Weinbauern haben kaum das nötige Kapital, größere Felder zu bewirtschaften. Ihre Holzhütten stehen gleich neben den Rebenstöcken und den Maisfeldern, Kühe, Hühner und Schafe gehören dazu. Jeder macht seinen eigenen Wein, aber der größte Teil der ernte geht an die Kooperative. Den brasilianischen Winzern fehlt die Behäbigkeit süddeutscher weingüter oder die Eleganz französicher Chateaus. Die weinbauern in Rio Grande do Sul sind immer noch Pioniere, die ihre ernte dem Dschungel abtrotzen.
Schließlich kamen sogar einige Österreicher. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1930 entstand der Ort Treze Tilias im zentralen Hinterland von Santa Catarina. Gegründet wurde der Ort von gerade einmal 12 Vorarlberger Immigranten im Jahr 1930 unter dem Namen „Dreizehnlinden“. Der aber musste unter Präsident Vargas ins Portugiesische übersetzt werden. Den ersten Wachstumsschub erlebte die winzige alpenländische Enklave erst nach 1933: Der vollbärtige Landwirt Andreas Thaler war von seinem Amt als österreichischer Land- und Forstwirtschaftsminister zurückgetreten, da er sich angesichts der massenhaften Verelendung der Tiroler Bergbauern hinfort ausschließlich der Kolonisierungsarbeit widmen wollte. Am 13. Oktober 1933 trafen unter seiner Führung 85 Einwanderer, darunter auch ein Pfarrer, im späteren Treze Tilias ein. Der über 450 KM von Florianopolis und der Küste entfernte Ort und seine Umgebung gefielen den Tirolern von Anfang an. Das Gebiet liegt 1000 m über dem Meeresspiegel und weist ein gemäßigtes subtropisches Klima auf. Ihren Baustil behielten die Tiroler bei. In Treze Tilias bestimmen alpin gestaltete Häuser mit flachen Giebeln, Ziegeldächern und Geranien-Balkonen das Ortsbild. In den stilechten Wirtshäusern servieren die Bedienungen im Dirndl. Denkt man sich die Palmen neben den schmucken Tirolerhäusern weg, man könnte glatt vergessen, dass man sich in Brasilien aufhält.
Wie stark die Kraft Brasiliens ist, jeden Neuankömmling binnen zweier oder dreier Generationen einzugemeinden, sieht man bestens an den Japanern, die in den 1920er Jahren zur Zeit der damaligen Hungernnöte in Scharen kamen und als billige Kaffepflücker eingesetzt wurden. Das ist natürlich Geschichte. Aber wer im Telefonbuch Sao Paulos blättert, wird auf Hunderte von Yamasakis und Iguchis stoßen. 4 oder 5 Millionen Menschen ist die japanische Gemeinde groß, in Sao Paulo kann man mehrere nippo-brasilianische Tageszeitungen kaufen. An den Universitäten sind die nisseis (Japaner der zweiten Generation) wegen ihrer Bildungswut gefürchtet. Viele junge nisseis haben versucht, in ihrer alten Heimat wieder Fuß zu fassen – man ließ sie nicht oder sie waren schon so verwestlicht, dass sie sich in die starre japanische Gesellschaft nicht mehr einzufügen vermochten. Schließlich wird der Brasilien Besucher auch verblüfft sein, wie viele arabische Imbisse es in Brasilien gibt, es gibt sogar eine orientalische Fast-Food-Kette namens Habibs. Die nahöstlichen Einwanderer – zumeist aus dem Libanon – unschwer an ihren Namen zu erkennen, halten noch eher zusammen und heiraten untereinander.....“
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Kleiner Exkurs:
Cafe Colonial
Das ist eine regionale Spezialität, für die großer Hunger empfehlenswert ist. Gemeint ist ein riesiges Buffet, unter dem sich die Tische biegen. Es besteht zumeist aus mehr aus 50 verschiedenen süssen und herzhaften Leckereien, an denen man sich einen ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein zu einem Pauschalpreis zwischen 6-8 euro p.P. laben kann. Die Speisen erinnern z.T. an deutsche Küche, aber auch die Italiener sollen ihren teil dazu beigetragen haben. Typisch sind: Kuchen, Torten,Marmelade, gefüllte TeigtaschenWwaffeln,Wurst,Käse, Fleischbällchen, Nudeln,Hähnchen......und und und......
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Uns hat es insgesamt sehr viel Spaß gemacht, den Wurzeln der deutschen Einwanderer nachzuspüren, sei es nun auf dem Immigrantenfriedhof in Joinville mit Gräbern zum Teil aus dem letzten Jahrhundert, sei es in Pomerode, der „deutschesten Stadt“ Brasilien, Gramado, dem Sankt Moritz Brasiliens oder auch in Novo Petropolis, deren Einwohner -auch wenn der Name anderes vermuten lässt, zu 95% deutscher Abstammung sind. Blumenau haben wir uns geschenkt, es ist eine typische Großstadt mit 300.000 Einwohnern. Die Orte liegen zum Teil in einer aeusserst romantischen Mittelgebirgslandschaft, die allerdings nur auf den ersten Blick europaeisch anmutet. Schaut man genauer, so wird die Faszination, die das Ganze teilweise ausstrahlt anhand der Vegetation schnell sichtbar. Die verstreut liegenden Bauernhoefe liegen haeufig umgeben von subtropischer Urwaldvegetation, die unmittelbar hinter den Feldern beginnt; deutsche Gemuesebeete sind umgeben von riesigen Bananenstauden. Alles strahlt eine unglaubliche Ordnung und Sauberkeit aus, typisch deutsch eben.. In den groesseren Orten wirkt die Architektur allerdings grossenteils doch sehr bemueht, die Gegend ist ein Touristenziel fuer Brasilianer aus den Kuestenmetropoelen und denen versucht man eben etwas zu bieten und sei es auch nur ein Abklatsch alpenlaendischer Bauformen, wo Fachwerk bei neueren Gebaeuden oft nur aufgeklebte Fassade ist. Die schon extreme Ordnung wirkt auf uns irgendwie antiseptisch und steril, es fehlt die Lockerheit, das leicht Chaotische des sonstigen Brasilien und wie es sich gehoert, werden die Buergersteige spaetestens um 8 hochgeklappt, spaetestens dann herrscht Ruh und Ordnung. Natuerlich werden wir wie ueberall in Brasilien schnell angesprochen, hier allerdings auf deutsch.
Allen Orten dieser Gegend ist um diese Jahreszeit (1.Advent)eins gemeinsam: Es wird ueberall geweihnachtet, was das Zeug haelt. Die naechtliche Weihnachtbestrahlung braucht deutsche Vergleiche nicht zu scheuen, wobei der Nobelort Gramado in dieser Hinsicht den Vogel abschiesst. Und die Leute tun dabei mit den Lichtern nicht nur was fuers Auge, nein Gott bewahr, ein richtiger Brasilianer will auch ohrenmaessig beschallt werden... Und so ertoenen aus oeffentlichen Lautsprechern an markanten Plaetzen weihnachtliche Klaenge...wo`st hischaust... Hoamat ! Letztlich stoert nur, dass neben der festlichen Weihnachtsbeleuchtung die Baeume ringsum bei angenehmen 26 Grad in uppiger Fruehlingspracht bluehen.....
Was bleibt neben der deutschen Spurensuche noch zu erwaehnen? Wir verbringen auf der Ilha Santa Catarina eine traumhaft schoene Woche in Canaveiras, einem zur Hochsaison ueberfuellten Badeort mit wunderschoenen Badestrand. Jetzt ist alles noch angenehm beschaulich.Die 10 Euro pro Nacht fuer den nahen Campingplatz schenken wir uns, sehen statt dessen im Ort direkt am Strand, unternehmen lange Strandspaziergaenge und geniessen die abendliche (Strand)barbesuche, die wir nicht mehr missen moechten. Nach spaetestens 3 Tagen kennt uns ueber das Auto nahezu jeder.......
Ueberhaupt hat sich unsere Strategie des Meidens der grossen Staedte und des Vorziehens kleiner Nebenstrassen und Pisten voll bezahlt gemacht. Wir fuehlen uns im „laendlichen“ Raum und in den mittelgrossen Staedten sehr wohl und sicher, ohne unvorsichtig zu werden, lernen ueberall nette Menschen kennen und erleben den Kontinent weitgehend abseits vom grossen Touristenrummel urspruenglich, so wie er wirklich ist. Es sind haeufig gerade die „kleinen Dinge“, die besonders im Gedaechtnis haften bleiben, sei es der traumhafte Blick ins Pantanal von der Steilstufe der Chapatas bei Cuiaba, die phantastische Stimmung in der bolivianischen Jesuitenkirche Conception, die kuriosen naechtliche Partys in einigen Tieflandstaedten Boliviens mit ihren Autokorsos rund um die Plaza oder auch nur der Besuch einer Strassenbar wie im nordbrasilianischen Brasileia oder in Ponta Pora. Im Gegensatz zu frueheren Reisen meiden wir die Orte nicht mehr zum Uebernachten, sondern suchen sie sogar extra auf, denn ein abendliches Bier mitten unterm Volk ist allemal interessanter als ein langweiliges Hocken im oder ums Auto.
Einziger Wermutstropfen der 4-woechigen Brasilienreise: Zweimal hat uns das Wetter uebel mitgespielt und mit jeweils 2 Tagen Dauerregen, Nebel in den Bergen bzw. sogar an der Kueste das Leben ziemlich vermiest. Es ist halt auch in Brasilien beim Wetter nicht alles so, wie es das Klischee-Bild des Tropenlandes vermitteln will. Nach Aussage von Einheimischen wird der letzte viel zu warme und zu trockene Winter jetzt im Fruehling mit haeufigen Schlechtwetterperioden bestraft. Das war schon eine Ueberraschung fuer uns, das statt der erwarteten kurzen Gewitterfronten echte langdauernde Tiefdruck-Schlechtwetterfronten mit Hamburger Pieselwetter das Geschehen praegen koennen. Da sitzt dann dumm im Auto, studierst im Internet die sich staendig aendernden Wetterprognosen und raetselst, wie lange du dem Geschehen nun tatenlos zusehen sollst, bevor man mit einer gewalt-Autotour dem Schrecken ein Ende setzen. Letztlich haben wir beim zweiten Mal den Kampfg verloren und aufgegeben. Nachdem wir in Gramado in den Wolken und alles durchnaessendem Dauerniesel der Weihnachtsatmosphaere auf der Spur war, verzichteten wir anschliessenden auf die Besichtigung der grossartigen Canyionlandschaft in den Sierra Gauchos. Man kanns schliesslich auch positiv sehen: Inclusive der jetzigen 4 Regentage hatten wir bisher insgesamt maximal 7 schlechte Tage, da kann man nicht meckern- und ausserdem: man muss sich ja auch noch einige Highlights fuer den naechsten Besuch aufheben....
Bleibt zum Abschluss noch eins zu erwaehnen:
Neben all diesen genannten „touristischen“ Punkten ist eine Reise nach Brasilien, egal wohin, immer auch eine Begegnung mit den Menschen und ihrer spontanen, offenen und sehr direkten Art des Umgangs miteinander, die uns häufig überrascht und angenehm berührt.
Wir haben viel gelesen über die „besondere Mentalität“ der Brasilianer, manches wirkt beim Lesen oft stereotyp und stark verallgemeinernd und doch erkennt man viele der Beschreibungen in vielen Alltagssitautionen als zutreffend wieder, je länger man im Land ist, umso mehr. Man könnte Romane über die vielen Anekdoten schreiben, was den Rahmen dieses Berichtes weit sprengen würde. Deshalb hier exemplarisch nur einige wenige Aspekte, etwa das Verständnis vieler Brasilianer über die restliche Welt,ihr Zeitverständnis oder ihre Neigung zur Geselligkeit:
.......Kaum sind wir aus dem Auto ausgestiegen, spricht uns prompt wieder ein neugieriger Brasilianer an. Obwohl wir des Portugisischen nicht mächtig sind, können wir die gestellten Fragen inzwischen ansatzweise verstehen, vor allem wenn es um Inhalte wie woher,wohin und warum geht. Wieder einmal klingt die Frage, so wie sie gestellt wird, irgendwie recht sonderbar, etwa in der Art, „ auf welcher Strasse“ wir denn von Deutschland nach Brasilien gereist seien. Anfangs waren wir immer etwas verwundert, klingt daraus doch irgendwie eine ziemliche Unkenntnis von Geographie und räumlichen Gegebenheiten heraus. Doch letztlich bestätigt sich in diesem Fall nur ein offensichtlich weitverbreitetes Phänomen, welcher sehr anschaulich auch in der Literatur beschrieben wird.
„Brasilianer wissen, dass sie Bürger eines grossen Landes sind, dass südlich des Äquators kein Land grösser ist als Brasilien, die Nummer 5 weltweit. Und weil das Land so groß ist, liegt die Außenwelt weit entfernt. Von allem, was sich außerhalb Brasiliens befindet, macht man sich kaum einen Begriff. Es ist kein Witz, wenn der Fremde tief in der Provinz schon mal staunend gefragt wird, wie lange es denn aus Europa mit dem Bus gebraucht hat, um in dieses Zentrum der Welt zu gelangen. Dass man auch etwas anderes als Portugisisch spricht auf diesem Globus, will vielen Brasilianern nicht so recht einleuchten. Sich überhaupt mit fremden Kulturen abzugeben, fällt selbst vielen gebildeten Brasilianern nicht leicht. Von innen gesehen, erscheint Brasilien riesig. Tem de tudo – es gibt doch alles, heißt es oft – und damit wurde auch die Abholzung des Regenwaldes geduldet. Selbst brasilianische Journalisten sind ausgesprochen ueberrascht, wenn man ihnen erzählt, dass Brasilien zwar riesig sein mag, aber im Welthandel (und Welttourismus) nur eine marginale Rolle spielt (nur ca. 1% des Welthandels entfällt auf Brasilien), und das ökonomische Riesen in Brasilien von draußen gesehen nur Zwerge sind....“
Inzwischen beherrschen wir ein Standardrepertoire an Wörtern, mit denen wir solche Fragen radebrechend beantworten können und meist huscht auch ein aufflackerndes Verständnis über das Gesicht des Fragestellers, wenn er erfährt, dass wir mit dem Frachtschiff (Barko) von Deutschland nach Argentinien geschippert sind. Aha, auf der Strasse von Buenos Aires nach Braslien-das leuchtet ein und damit ist auch gut der Fragerei, wo es doch so viel wichtigere Dinge zu erledigen gibt...nämlich das Auto mit der kleinen Digicam oder noch besser mit dem Foto-Handy abzulichten, um anschliessend sofort allen Freunden und Bekannten von der sensationellen Begebenheit zu berichtet ...... Sind wir anfangs noch etwas irritiert über diese extreme Art der Aufmerksamkeit, die man uns entgegenbringt, wo immer wir auch auftauchen, so haben wir uns inzwischen doch schnell an diese direkte und offene Art der Menschen gewöhnt, nicht zuletzt, weil sie sehr herzlich wirkt. Da verwundert dann noch nicht mal mehr eine Begegnung der extremen Art, wo ein brasilianischer Lokalpolitiker (er nannte als Berufsbezeichnung „politischer Funktionär“) mit seiner Familie nachts um halb elf seinen Freundeskreis antelefonierte, um ihnen von der unerhörten Sensation seiner Begegnung zu berichten, worauf diese dann in Minuten mit dem Auto ebenfalls zum gemeinsamen Fotoshooting anreisten und ca. 10 Personen anschliessend in wechselnder Besetzung vor unserem Auto zur Fotodokumentation posierten!
Wie steht es so schön geschrieben: „ Fotos,aber ja! Bitte nicht mit dem Teleobjektiv. Die Brasilianer wollen ins Bild. Sie müssen nah ran, Weitwinkel ist angesagt. In Brasilien gibt’s kein Bildverbot, ganz im Gegenteil. Fotografieren aber heißt, den Leuten in die Augen zu schauen. Jede Oma, jedes Kind und jede Schönheit ist selig, auf die Platte zu kommen. Es ist eine Show! Aber jetzt sind sie als Regisseur gefordert. Nicht jeder kann das. Denn sie müssen mit ihren Schauspielern arbeiten, reden, sprechen, gestikulieren. Ein Schnappschuss wird das nie, sondern-. viel besser – eine dokumentierte menschliche Begegnung.“
Internet und Fotohandy sind für die kontaktfreudigen und fotosüchtigen Brasilianer, sofern sie sich beides leisten können., dabei ein wahrer Segen des Fortschritts und der Zivilisation. Seinen Freundeskreis per Internet chattend pflegen und ausbauen und dabei noch per Digicam und Fotohandy online die neuesten Schnappschüüse austauschen – das ist Kult in Brasilien, wie wir selbst bei unzähligen Besuchen in – zumeist vollen- Internetcafes beobachten konnten und dies ist vor allem auf einen einzigen Menschen namens Orkut Buyukkokten zurückzuführen.... „Wer Freundschaft mit einem jungen Brasilianer oder einer Brasilianerin schliesst, wird heutzutage in der Regel nach vier Dingen gefragt: Email, Chat-Adresse, Telefonnummer und „Orkut“. „Bist du im Orkut?“. Wo bitte schön bin ich? Orkut ist eine Internet-Community, eine „Freundschaftsplattform, an der man nur auf Einladung eines Mitgliedes teilnehmen kann. Der Benutzer sieht seine Freunde hübsch mit Bildchen auf dem Monitor und neben vielen anderen Funktionen kann er ihnen kurze Nachrichten hinterlassen oder in unzähligen Themenforen über Gott und die welt diskutieren. Kurzum: Ein Medium des 21. Jahrhunderts zur Freundesverwaltung. Wie geschaffen für die nach Harmonie strebenden Brasilianer, wo die Anzahl der Freunde ein Statussymbol ist. Ersonnen hat das erfolgreiche Modell ein Google-Programmierer armenischer Herkunft namens Orkut Buyukkokten. Nicht erwartet hatte er wohl, wie begeistert Orkut von den Brasilianern aufgenommen werden würde. Von den über 3,5 Millionen Nutzern im März 2005 stammten 75% aus Brasilien. Als erste Sprache wurde die Webseite vom Englischen ins Portugisische übersetzt, inzwischen gibt es sie auch auf Deutsch. Die Brasilianer lieben Orkut und wer heute sozial mithalte4n möchte, ist auf eine Orkut-Präsentation fast angewiesen. Das „Sammeln“ von Freunden erscheint dabei teilweise wie ein Leistungssport: Weniger als 100 Freunde nennt kaum jemand sein eigen. Ab 500 Freunden darf angenommen werden, dass jemand sehr beliebt ist oder DJ. In jedem Fall verfügt er über viel freizeit. In Büros und Geschäften sind viele Mitarbeiter über MSN und Orkut permanent online, da stört der Kunde beim Chatten oft nur –Untersuchungen über die Folgen von Orkut für die brasilianische Volkswirtschaft stehen noch aus....“
Aber wer mag sich schon gern mit solch langweilige Themen beschäftigen. Schliesslich „dimensioniert die Grösse des geografischen Raumes indierekt auch das Denken der Menschen, die in diesem grossen Land leben. Brasilianer sind großzügig und erwarten diese Großzügigkeit auch von Fremden –übrigens auch Großzügigkeit im Umgang mit der Zeit.“ So hat der amerikanische Psychologe Levine in seiner „Landkarte der Zeit“ festgestellt, dass Brasilien zu den langsamsten Ländern auf der Welt zählt (neben Indonesien und Mexiko) und zwar anhand von Kriterien wie der durchschnittlichen Gehgeschwindigkeit, dem Trab des Amtsschimmels, der Schneckenpost der Bürokratie, der Schnelligkeit, mit der man in Geschäften bedient wird und und und... . Gerade in Bezug auf den letzten Punkt, der Bedienung in Geschäften und Kneipen, können wir aus eigener mannigfacher Erfahrung bestätigen, dass Levine mit seiner Landkarte so falsch nicht liegen kann: mal ist es die Bedienung an der Kasse, der scheinbar die Finger beim Tippen an der Tastatur festkleben, ein anderes Mal ist es die weibliche Bedienung in einer Bar, die ein schon fast provozierend wirkendes Desinteresse an den Tag legt, ein anderes Mal die erschreckend ahnungslosen Verkäuferinnen in so mancher Apotheke (in Brasilien immer auch Drogerien), die uns im extremsten Beispiel auf die Frage nach Medikamenten zur Malaria-Phrophylaxe zu einer Gelbfieber-impfung rieten....Man sollte hier als „Westler“ allerdings nicht zu pingelig an die Sache rangehen und auch nicht verallgemeinern. Der Service in Restaurants ist in der Regel super und was vor allem die grossen Tankstellen Brasiliens an Serviceleistungen rund ums Auto, etwa dem sofortigen Ölwechsel und Abschmierservice direkt an der Zapfsäule (über einer Grube) oder auch mit den angeschlossenen hervorragende Churrasceria-Restaurants und kostenlose Duschen für die Trucker bieten, erinnert schmerzlich an selige Filmzeiten a la „ Die 3 von der Tankstelle“.
Schließlich:. Die extremste Form des „kulturbedingten Zeitbegriffs“ der Brasilianer dokumentiert sich übrigensan der profanen Frage: „Wo darf man wie viel zu spät kommen. Gar nicht zu einer Verabredung zu erscheinen und nach brasilianischem Verständnis einfach ein extremer Fall von Verspätung und durchaus akzeptabel...“.
Irgendwie ist diese Lebenseinstellung durchaus verständlich, denn Brasilianer sind gesellige Menschen; warum sollte man unbedingt länger arbeiten als nötig, wenn doch der Abend in fröhlicher Runde mit Freunden lockt. Ich hab schon mehrmals von der bemerkenswerten abendlichen Party-Stimmung berichtet, die uns in manchen Städten begegnet ist und die man wirklich einmal erlebt haben muss. In gewisser Weise hat diese Stimmung uns schon ein bisschen angesteckt, denn wir suchen mehr als früher statt einsamer Übernachtungsplätze in der Natur abends lieber die Orte zum Übernachten auf , übernachten entweder an der zentralen Plaza oder einer anderen geeigneten Stelle im Ort, um die abendliche Stimmung in einer Bar mit ein paar Bieren.
„...Zugegeben, nicht überall ist Strand in Brasilien. Aber Fast! Denn erstens leben fast 2 Drittel aller 170 Mio. Brasilianer in höchstens 100 KM Entfernung zum Atlantik mit seinen fast 8000 KM ! Küstenlinie, zweitens spielt das Badevergnügen auch in Amazonien eine zentrale Rolle, und drittens braucht der Strand keinen Sand zu haben. Genau genommen ist die Praia- der strand überall dort, wo sich Leute treffen, ratschen und Bier trinken. „Ich ging im Walde so still für mich hin“ oder „Wenn der Berg ruft“, das rührt an die tiefsten Seelensaiten nordischer Menschen. Kein Brasilianer käme auf die Idee, die Küste aufzusuchen, um ein Zwiegespräch mit der Natur zu führen. Beileibe nicht. Mit einsamen Stränden mag man sonnenhungrige Europäer locken, den Brasilianern sind sie zuwider. Sie suchen nicht die Natur, sondern die Geselligkeit. Gewiss, man darf auch ins Wasser gehen und schwimmen (die wenigsten können es), aber das sind wirklich nur Nebensächlichkeiten. Strandkörbe, diese geflochtenen Nester der Stubenhocker oder strandburgen, sorgsam abgegrenzte Reviere, die mit Ingrimm vor den Femden verteidigt werden – das müsste man den Brasilianern erst erklären, und sie verstünden es dann immer noch nicht. Ein kühles Bier, einen Churrasco auf dem Grill, Koffer- oder Autoradio voll aufgedreht- das ist es, was Brasilianer lieben....“
Im übrigen trifft das natürlich in keinster Weise auf sämtliche Orte in Brasilien zu: manche Land- und Küstenstädtchen sind abends nicht weniger verschlafen als in Deutschland und je weiter man nach Süden in die „Kerngebiete“ deutscher Besiedlung vordringt, desto trostloser wird das Nachtleben. Die Deutschstämmigen sind eben halt „chato“ – steif und holzköpfig.
Uns fehlt jetzt natürlich die Begenung mit der Kultur des afrikanisch geprägten großen Nordostens Brasiliens, die Wiege von Samba, Forro und Aixe-Musikdeshalb sind wir natürlich auch gespannt auf diese Region bei der nächsten Brasilientour....
Bis zum naechsten Mal aus Uruguay zum Zweiten - wo wir diesmal echt gespannt sind, obs uns auch diesmal noch so begeistert wie beim ersten Mal. Anschliessend gehts via Argentinien wieder Richtung Westen und Anden bzw. Pazifik...
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Exkurs 2 zum suedlichen Gaucho-Brasilien
Der Mate/Chimarrao-Kult
Es ist eines der ersten Dinge, die auffallen in Porto Alegre und Rio Grande do Sul. Vom Arbeiter bis zum Anzugträger und quer durch alle Generationen: jeder hält in der Hand ein bauchiges Gefäß mit Metall-Trinkröhrchen, in der anderen eine Thermoskanne mit heißem Wasser. Ein Gaucho ohne Chimarrao wäre wie ein Bayer ohne seine Maß Bier. Gesünder ist allerdings der Chimarrao, jener grüne Mate-Tee, den schon die guarani-Indianer tranken. Ihn zuzubereiten ist eine hohe Kunst.
Das Gefäß heißt bCuia, ein ausgehöhlter und getrockneter Flaschenkürbis. Das Röhrchen, aus dem man trinkt, ist die Bomba. Die feingehackten Mate-Teeblätter werden liebevoll in die Cuia eingefüllt. Das Wasser kann sehr oft nachgegossen werden. Man rinkt immer, bis das charakteristische schlürfgeräusch ertönt. Danach wird zum Nachbarn weitergereicht. Folgende 5 Tipps vermeiden Peinlichkeiten beim unerfahrenen Chimarrao-Trinker:
1. Chimarrao trinken ist ein gemeinschaftliches Ritual, alleine ist es nur halb so schön.
2. Manchem mag das trinken so vieler Leute aus em gleichen Röhrchen unhygienisch scheinen. Denken darf man es, sagen nicht!
3. Das gleiche gilt für die Temperatur des Tees. Wer ihn zu heiß findet, behält das besser für sich!
4. Der tee ist bitter. Auf die Idee, ihn mit Zucker zu trinken, kommen allerdings nur Gringos.
5. Niemals eine halbe Cuia trinken! Da muß jeder ganz durch. Bis zum Schlürfgeräusch.
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Mate-Geniesser
Adios bis zum naechsten Mal
die meisten Zitate stammen aus:
Carl Goerdeler Kulturschock Braslien
die-Bildergeschichte-zum-Text
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die-Reiseroute1
die-Reiseroute2
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Die Musik zur Story:
Diesmal die Spannbreite von MPB Tradicao, ueber den typischen Forro des Nordostens bis zum eher melancholisch angehauchten Gaucho-Sound aus dem suedlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul
Traditionell
Traditionell2
Rio-Grande-Sound
Forro-Sound
Nachtrag vom 4.12.
Unser letzter Tag in Brasilien im Kuestenort Cassino bei Rio Grande:
Alle welt bevoelkert am Wochenende die Hauptstrasse des Ortes und okkupiert den Mittelstreifen, aus den umliegenden Haeusern kommen die Leute und stellen ihre Campingstuehle auf, kein Mensch verbringt den Tag zuhause:
Foto1
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Foto2
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Wichtigstes Kleidungsstueck der Brasilianer: Badelatschen!!! ansonsten zeigt man, was man hat, bloss raus aus beengenden Kleidern; uebrigens sahen wir nur wenige Minuten nach diesen Aufnahmen eine arabisch (vermutlich libanesische Familie in ihrem Mercedes vorbeifahren; die Frauen im Auto trugen Maentel und Kopftuch; diese islamische religion und traditionelle wertevorstellungen wirken sogar im so freizuegigen, lebenslustigen Brasilien weiter; fuer mich bei allem Verstaendnis fuer kulturelle werte irgendwie nicht mehr so recht nachvollziehbar):
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am nahen Strand dagegen herrscht am Wochenende US-amerikanische Daytona-Beach-Stimmung; es ist sprichwoertlich die Wutz los:
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